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Leiderer Wintervergnügen Mitte der 1950er – „åm Mää unn uff de Kipp“

Liebe Leser*innen,

ich möchte Sie herzlich einladen zu einer kleinen Zeitreise. „Winter“ nennt sich die Illustration aus dem Büchlein „Unverwüstliches ABC und Bilderbuch für kleine Kinder“, das 1819 in Leipzig erschienen ist. Die Gebäude im Hintergrund, die dargestellten Personen, ihre Kleidung und auch ihre Sportgeräte vermitteln uns Eindrücke von den Winterfreuden vor ca. 200 Jahren. [1]
Rodeln und Schlittschuhlaufen waren auch Mitte der 1950er Jahre für die Kinder und Jugendlichen zwischen 5 und 15 Jahren aus dem Aschaffenburger Stadtteil Leider die beliebtesten Wintersportaktivitäten. Wenn Schneefall und mehrere Tage mit Minustemperaturen die natürlichen Voraussetzungen geschaffen hatten Schlitten zu fahren oder auf dem Eis Kurven zu drehen, gab es für die Leiderer Jugend damals drei „Favoriten“, wo sie das am liebsten taten: „åm Mää unn uff de Kipp“ [2] und „im Busch“ [3].

Vor allem die beiden Erstgenannten waren zu allen Jahreszeiten die Orte, an denen wir nie lange alleine unterwegs waren, wo immer etwas los war, wo man keinen Eintritt zu bezahlen hatte, die Wegstrecken und -zeiten nahe null gingen und die notwendige Versorgung mit Essen und Trinken in der nahen elterlichen Küche meistens gesichert war. Das waren gewaltige Vorteile gegenüber den heutigen Freizeitparks. Natürlich waren Frühjahr, Sommer und Herbst die Jahreszeiten, in denen wir am meisten draußen „unterwegs“ waren.

Doch auch der Winter konnte „åm Mää unn uff de Kipp“ sehr kurzweilig sein, obwohl wärmende, wasser- und winddichte Outdoorkleidung damals noch in ferner Zukunft liegen sollten. Leibundseelhosen [4] als Unterwäsche, dicke Wollsocken, selbst gestrickte Pullover, darüber bei besonders eisigen Temperaturen vielleicht noch eine – meistens „vererbte“ – Jacke, dazu dicke Baumwolle- oder Wolle-Drillichhosen [5] , Wollmützen, -handschuhe und lederne Schnürstiefel: So ausgerüstet überstanden wir z. B. auch den Superwinter 1956. Viel Bewegung war trotzdem angesagt, um sich draußen warmzuhalten.

Wenn sich die erste geschlossene Schneedecke übers Mainland gelegt hatte, schauten wir Leiderer immer mit ein bisschen Neid hinüber an den Hang oberhalb der Mörswiese oder dachten sehnsüchtig an die herrlichen Rodelhänge am Godels-, Wendel- oder Bischberg und am Dämmer Galgenbuckel. Was hatten wir? Schlitten hatten wir: Einsitzer, liebevoll „Melkschemel“ genannt, Zwei- [6] und Dreisitzer. Natürlich befreiten wir – wie die Dämmer oder Schwoihier [7] Jugend – mit Schmirgelpapier die Schlittenkufen vom Rost der langen Rodelpause und rieben sie mit Speckschwarten ab:
Feintuning eben, anno 1956!
Aber Rodelhänge? Drei ortsnahe „Rodelhänge“, soweit man diese bei maximal 20 bis 30 Meter Gesamtlänge einschließlich einer ca. 5 m langen Gefällstrecke mit vielleicht 20° Neigung als solche bezeichnen konnte, standen uns zur Verfügung [8] :
– „Uff de Kipp“, am, dem Main zugewandten, Ende des Weges gelegen, der östlich vom Kindergarten vom Sandrainweg abzweigte; heute Ende Karlsbader Straße,
– „åm Ǻnker“ (Gasthaus „Zum goldenen Anker“) und
– für uns Kinder aus der Ortsmitte eher die Ausnahme – eine Bahn an der „Thyssenbrücke“ [9] neben der Treppe von der Augasse zur Hafenbahnhofstraße.

Eindeutige Lieblingsstrecke dieser Zeit war die „åm Ǻnker“. Die hatte man aber bei entsprechender Schneelage nie lange für sich alleine. Getümmel war zwar infolge des Platzmangels kaum möglich, aber für spontane Wettbewerbe fanden sich immer ausreichend Teilnehmer. Wer im Sitzen rodelte, galt als Weichling. Deshalb wollten wir meistens „baucherts“ [10] die größtmögliche Distanz zurücklegen – bei ca. 4 Meter Anlauf-, ca. 4 Meter Gefäll- und vielleicht 15 bis 20 Metern Auslaufstrecke! Sieger wurde derjenige, der bis zum Stillstand die größte Strecke zurückgelegt hatte. Der Zaun zum Pfaff´schen Hühnergehege verhinderte auch bei besten Rodelbedingungen und größten Anstrengungen der Beteiligten alljährlich neue Rekordweiten. Sehr zum Leidwesen der Familie Pfaff, denn der Zaun bekam durch die mehr oder weniger heftigen Schlittenkontakte zusehends mehr Schadstellen. Auch die Wirtin vom „Ǻnker“ hatte nicht unbedingt ihre Freude am Rodelbetrieb direkt unterhalb der etwa 5 Meter hohen Mauer ihrer Gartenwirtschaft. Letztere war zwar im Winter nie besucht, trotzdem streute Irmgard F. des Öfteren morgens Asche auf unsere Bahn und vergällte uns so den Spaß am Rodeln. Findige Köpfe versuchten die Asche mit Wasser wegzuschwemmen, was dann meistens zu einer Vereisung der Rodelbahn führte. Jetzt waren unsere Lenkkünste besonders gefragt, vor allem wenn auch noch Rodelslalom angesagt war. Mit der „Anker“-Mauer auf der rechten und einem stets feuchten Entwässerungsgraben auf der linken Seite endete der Wettkampf dann für so manchen Rodler mit ordentlichen Schrammen oder nasser Kleidung.

Die beiden anderen Rodelbahnen hatten ebenfalls ihre Eigenheiten. Die auf der „Kipp“ war stark bewachsen und hatte nur eine sehr kurze Gefällstrecke mit abruptem Übergang in die Waagrechte. Rodler, manchmal auch Rodlerinnen, landeten dort öfter unfreiwillig mit dem Kopf voraus im Gelände. Ein richtiges Rodelgefühl stellte sich da nicht so recht ein. Hier versuchten eher die ersten „alpinen“ Skiläufer ihr Glück auf gehobelten Fassdauben mit angeschraubten Lederriemen als Skibindungen. Ein Quantensprung: Der Leiderer Wagner Walter Stöckinger fertigte ab Mitte der 1950er sogar echte Holzskier nach Maß. Mangels Geld waren die dann aber eher die Ausnahme.
Die Bahn an der Hafenbrücke hatte von allen drei Rodelpisten die längste Neigungsstrecke, aber praktisch keine Anlaufstrecke und nur einen sehr kurzen Auslauf, der zudem noch direkt auf die Hafenbahnhofstraße mündete.
Die trotz des langen Anmarschweges zweifellos attraktivste Rodelbahn für die „Größeren“ unter uns, war natürlich die Gefällstrecke vom Aussichtsturm im Schönbusch hinunter, über den Weg zwischen See und Irrgarten hinweg und am Gegenhang wieder hinauf. Diese Besonderheit des Auslaufs wurde noch übertroffen von den quer über die Abfahrt laufenden Wegstufen auf der Gefällstrecke. Die erzeugten, je nach Schlittenlast und -tempo, bei Fahrer und Schlitten bei jedem Hopser beachtliches Geächze. Ein weiterer Reiz dieser Strecke lag natürlich auch in der Spannung, ob und wann der Parkaufseher auftauchen würde, der solch ein Treiben in „seinem“ Park keinesfalls dulden konnte.

Der Schönbusch hatte außer dieser „inoffiziellen“ Rodelbahn natürlich immer dann nicht nur auf uns Leiderer die größte Anziehungskraft, wenn sich infolge einer längeren Frostperiode auf dem See eine tragfähige Eisschicht gebildet hatte. Spaziergänge übers Eis, Schlittschuhlaufen, ja sogar Eistanz, Eisstockschießen für die Älteren, auch Eishockey – alle diese Aktivitäten gab es auch schon in den 1950ern. Richtige Schlittschuhe, bei denen die Kufen mit den Schuhen fest verbunden waren, konnte man schon vereinzelt bestaunen. Das Gros der Schlittschuhläufer*innen musste sich damals noch der Mühe des Anschraubens der Kufen an die Stiefel unterziehen [11], um dann auf dem Eis mehr oder weniger gekonnt seine Bahnen zu ziehen.

Besonders heikel war die Zeit der Eisbildung oder bei einsetzendem Tauwetter. So mancher Leiderer Bub, der vorzeitig auf das Eis wollte oder noch nicht genug vom winterlichen Vergnügen hatte, brach in den nur etwa 80 bis 100 cm tiefen See ein, musste dann aber mit nassen Hosen die etwa 2 Kilometer ins Dorf laufen. „Eisbäder“ mit dramatischen Folgen sind mir nicht bekannt aus dieser Zeit.
Ganz anders gestalteten sich die Eislaufmöglichkeiten auf dem Main. Der fror als Fließgewässer ohnehin erst nach mehrwöchigem strengem Frost so zu, dass man sich als Fußgänger bzw. Schlittschuhläufer*in darauf bewegen konnte. Unterhalb des Auslaufes des Kühlwassers vom Bayernwerk in Leider blieb das linksmainische Ufer kilometerweit stromabwärts beständig eisfrei. Auch stromaufwärts konnte man selbst im strengen Winter 1956 nicht sicher sein, ob die Eisfläche über die gesamte Flussbreite tragfähig war. Der Grund: Eisbrecher des Wasser- und Schifffahrtsamtes versuchten so lange als möglich, durch das Aufbrechen der Eisdecke in der Mitte des Mains eine Fahrrinne freizuhalten.[12]

Es muss in den Februarwochen 1956 gewesen sein, als der damals jugendliche Günter G. aus Leider, von der Statur her ein Leichtgewicht, etwas Besonderes wagen wollte. Obwohl in der Strommitte die wieder zusammengefrorenen Schollen der wenige Tage zuvor freigebrochenen Fahrrinne auch vom Leiderer Ufer her deutlich zu sehen waren, wollte er den Main überqueren. War es Übermut? Lag diesem Vorhaben eine gewaltige Unterschätzung der Gefahrensituation zu Grunde? Ihm, der in der unteren Brunnengasse, also in direkter Nachbarschaft zum Main lebte, musste das Risiko eines solchen Vorhabens bewusst gewesen sein. „Är wolld unns nuä zeische, dass är wås kånn, wås em sou schnäll känner nåchmeschd“ erinnert sich heute noch ein Nachbarsjunge von damals. Vom Leiderer Ufer etwa in Höhe des Kilometer-85-Schildes aus verfolgten wir Günter, der sich trotz Warnungen auch von unserer Seite aus in Richtung Mörswiese am jenseitigen Ufer aufmachte. Gebannt beobachteten wir ihn auf seinem Weg über die schneebedeckte Eisfläche. Günter war noch etwa 5 – 6 Meter vom rechten Uferrand entfernt, als er plötzlich ins Eis einbrach. Er schrie laut um Hilfe, die sich auch schnell aus Richtung der ehemaligen Tuchfabrik Weller näherte. Wir konnten einen Mann erkennen, der mit einer langen Leiter in Richtung Günter rannte, das Rettungsgerät auf das Eis legte, auf allen Vieren zum „Einbrecher“ kroch und ihn aus dem Wasser ziehen konnte.
Günter hatte mit seinem Unterfangen tatsächlich gleich Mehreres erreicht:
– Unserer Respekt vor einem Eisgang auf dem Main und den Tücken auch scheinbar tragfähiger Eisflächen hatte sich noch einmal beträchtlich erhöht.
– Günter war für die Leiderer schlechthin „die Sensation des Winters“.
– Was ihm bis in die Gegenwart geblieben ist: Wer Zeitgenossen von damals nach dem „Eisvochel“ fragt, lockt beim Befragten nach kurzem Nachdenken ein Schmunzeln hervor: „Wart emool. De Eisvochel? Ja, dess wår de Günter aus de Brunnegass.“
„Wer den Schaden hat, braucht …“

Fußnoten:

[1] Siehe Abb. 1.
[2] Siehe Karte 1.
[3] Leiderer Kurzbezeichnung für den Park Schönbusch.
[4] Ein meistens von Buben getragenes einteiliges Unterwäschestück, gleichzeitig Unterhemd und lange
Unterhose; letztere war hinten mit einer mit Druckknöpfen zu schließenden Klappe und vorne mit einer
normalen Schlitzöffnung für die diversen „Geschäftsarten“ ausgestattet. Der Begriff „Leibundseelhose“
wurde 2004 übrigens von den Machern der Würzburger „Main-Post“ zum schönsten Würzburger Wort
gekürt. Siehe: https://www.mainpost.de/regional/wuerzburg/hundsverregger-in-leibundseelhose-art-
2731089! Im Duden, 28. Ausgabe von 2020, kennt dieses Wort dagegen nicht.
[5] Häufig aus alten Uniformresten oder -stoffen hergestellt.
[6] Siehe Abb. 1.
[7] Dialektbezeichnung für „Schweinheimer“.
[8] Siehe Karte 1.
[9] Bezeichnung für die Hafenbrücke, auf welcher die Augasse die Hafenbahn zur B26 kreuzt.
[10]Hochdeutsch: „In Bauchlage“ oder „bäuchlings“.
[11] Siehe Abb. 3.
[12] Siehe Abb. 4.

 

Hier geht es zu einem weiteren Beitrag zur Aschaffenburger Kindheit im Winter:

https://aschaffenburgzweinull.stadtarchiv-digital.de/schlittenfahren-am-galgenbuckel/

 

 

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