Zur Weihnachtszeit wurde im Stadtlabor „Aschaffenburg 2.0“ ein Sammlungsaufruf zum Thema Weihnachten gestartet. Einige der eingereichten Geschichten und Erinnerungen können hier und in weiteren Beiträgen nun gelesen werden.
von Gertrud Fleckenstein (97 Jahre)
Damals waren wir drei unzertrennliche Freundinnen im schönsten Jugendalter, so um die 18, und Lehrlinge in Modeberufen, Modistin und Damenschneiderin. Zusammen gingen wir durch Dick und Dünn! Wir hatten wenig Freiraum, um uns zu entfalten, der Sog der Zeit riss uns mit. Unsere Jugendzeit wurde vom Krieg verschluckt, kein Tanz, kein Vergnügen. Selbst der Kinofilm wurde vom Fliegeralarm abgewürgt.
Die Jungs in unserem Alter waren im Arbeitsdienst, oder bereits an der Front. Wir trafen unsere Schulkameraden nur bei kurzem Heimaturlaub für wenige Tage. Meist waren wir gemeinsam auf der „Almhütte“ in Schweinheim, oder am „Rüschelberg“-Häuschen. Wir saßen zusammen bei Wasserbier und sangen die neuesten Soldatenlieder, die ich mit der Mund- oder Ziehharmonika begleitete. Unsere Melodien klangen harmonisch durch die verdunkelten Fenster und Türen und zogen auch andere Gäste an. Unterbrochen wurden wir nur vom Dröhnen der Bombengeschwader über uns, dann wurden wir stumm, unsere Fronturlauber auch – unbegreiflich!
Weit weg von der Stadt sahen wir die Scheinwerfer den Himmel absuchen, oder die „Christbäume“, die ihr Ziel ausleuchteten. Draußen in der Nacht hatten wir wenig Angst. Angst ja, mit der mussten wir leben. Wir sangen mit unseren Schulkameraden die Welt schön, aber in Wirklichkeit war die Welt eine böse Fratze. Alles ist aus den Fugen geraten, was war richtig? Was war falsch? Nach jeder Bombenacht kam ein neuer Tag und das Licht am Ende des Tunnels wurde immer düsterer.
Wieder stand eine Kriegsweihnacht vor der Tür. Die Christbäume ohne Kerzen, „Lametta“ ließen die Bomben vom Himmel fallen und das Leben ging weiter.
Nun komme ich eigentlich zum Herz meiner Geschichte:
Wir, meine zwei Freundinnen und ich, bekamen einen besonderen Auftrag: Das Christkind zu vertreten. Nach kurzer Beratung stimmten wir zu. Maria war die Größte und verkörperte den Nikolaus, Anneliese das Christkind und ich, da ich Mundharmonika spielte, den Engel mit dem Glöckchen. An der Verkleidung wurde gebastelt, verworfen und das Unmögliche möglich gemacht. Annelieses Eltern halfen uns beim Anziehen. Wir sahen überzeugend gut aus!
Da es draußen, wegen der Verdunkelung, stockfinster war, begleitete uns Annelieses Bruder mit dem Besenstiel. Er musste aber nicht einschreiten. Wir ließen unsere Glöckchen kräftig bimmeln und plötzlich öffneten sich verdunkelte Fenster und Türen! Man rief uns herein, informierte uns kurz im Treppenhaus über Lob und Tadel der Kleinen. Unser Erscheinen war Angst und Freude, denn der Nikolaus war auch dabei! Wir sahen die strahlenden Kinderaugen, wir hörten ängstliche Gebete und sogar das „Vater unser“! Aber wir bemerkten auch die heimlichen Tränen der Erwachsenen, die an ihre Halbwaisen dachten. Am Ende sang die ganze Familie unsere schönen alten Weihnachtslieder mit uns, meine Mundharmonika überbrückte die längst vergessenen Texte.
In dieser heiligen Nach führte uns unser Glöckchen noch in so manche Wohnstube, auch in die der Ausgebombten – kein Licht, kein Stern, nur kahle Weihnachtsbäume. Wir wurden mit Plätzchen beschenkt und manchmal auch mit Geld, womit wir überhaupt nicht gerechnet hatten.
Wir teilten alles durch drei und kamen kurz vor Mitternacht heim. Ich wurde kräftig angeschimpft, denn der Heilige Abend bei uns daheim war vorbei. Der Gang zur Mitternachtsmesse verlief stumm. Am Ersten Weihnachtstag habe ich daheim von meinem nächtlichen Erlebnis erzählt, von den strahlenden Kinderaugen, aber auch von den versteckten Tränen. Und man hat mich auch verstanden!
Schade, Maria, der Nikolaus, und Anneliese, das Christkind, können meinen Bericht nicht mehr bestätigen, aber meine Glöckchen läuten nun für sie!