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Kindheit in Aschaffenburg – Vom Schwimmbad und verlorenen Schuhen

Kindheit in Aschaffenburg – was bedeutet das? Woran erinnern sich die Aschaffenburger*innen, wenn sie an ihre Kindertage zurückdenken? Welche Orte, Personen und Ereignisse sind bis heute in der Erinnerung präsent? Diesen Fragen ist die Ausstellung „Kinder- und Jugendzeit in Aschaffenburg“ im Jahr 2010 nachgegangen.

Einige der eingereichten Erzählungen und Bilder werden nun hier erneut präsentiert.

 

In diesem Beitrag erzählt Bodo Schneider (Jg. 1940) aus seiner Kindheit.

Als ich sechs Jahre alt war, kam ich im September 1947 in die erste Klasse der Volksschule. Die für meinen Stadtteil zuständige Luitpoldschule war nur noch zur Hälfte vorhanden und dieser Torso konnte damals noch nicht benutzt werden. Deshalb musste ich – wie auch die anderen 59 Schüler in meiner Klasse – die Schulbank in der Friedensschule drücken.

Das Fach „Sport“ oder „Leibeserziehung“ konnte in der Friedensschule mangels geeigneter Einrichtungen nicht erteilt werden. In der warmen Jahreszeit ging die ganze Klasse aber manchmal hinaus zu dem nahen Betonbecken eines trockenen Planschbeckens neben dem „Hannewackeldudelsee“, das dort schon vor dem Kriege existierte. Hier zogen alle Kinder, wir waren nur Buben, ihre Schuhe und Strümpfe aus, um sie zu schonen. Schuhe, vor allem Kinderschuhe, waren damals ausgesprochene Mangelware und kaum zu bekommen. Barfuß rannten wir dann immer im Rechteck um den Beckenrand herum und hatten damit etwas sportliche Bewegung. Ich rannte mit der ganzen Meute mit und trat unversehens mit dem nackten Fuß in die Scherbe eines Flaschenbodens, der dort herum lag und den wir nicht bemerkt hatten. Es blutete ganz fürchterlich, ich hatte mir sehr tief in den Ansatz der linken kleinen Zehe geschnitten. Natürlich weinte ich lauthals los, als ich das Blut sah und auch den Schmerz spürte. Unsere Lehrerin, Fräulein Hoffmann, war völlig ratlos, was zu tun sei. Zwei ältere Mädchen hatten das beobachtet und sich angeboten, mich zu den in der Krankenpflege ausgebildeten Nonnen im Pfarrhaus der Herz-Jesu-Kirche zum Verbinden zu bringen. Frl. Hoffmann schickte die Mädchen mit mir los und hatte ein Problem weniger, sie hatte schließlich noch die restlichen 59 wilden Buben zu bändigen.

Die Herz-Jesu-Schwestern waren sehr besorgt, konnten mich aber schnell beruhigen, nachdem das Blut gestillt und der Fuß notdürftig verbunden war. Ich höre aber heute wie damals noch die unheilschwangeren Worte der einen Schwester: „Der Bub braucht e Spritz beim Dokder!“ Das war etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Eine Spritze hatte ich wissentlich bis dahin noch nicht bekommen, aber immer nur Furchtbares darüber gehört. Und nun wollten die mich mit so etwas traktieren! Die beiden Mädchen wurden von den Schwestern beauftragt, mich in die nahe Bustellistraße zu dem dort praktizierenden Arzt zu bringen, damit er mir eine Tetanusspritze verabreiche, was auch geschah. Bei Dr. Löwer weinte ich noch heiße Tränen aus Angst vor der Spritze, die dann aber gar nicht schlimm war. Der Fuß wurde noch einmal dick und fachmännisch bandagiert. Ich bekam eine Rechnung über zehn Reichsmark in die Hand gedrückt mit der eindringlichen Weisung, sie auf alle Fälle meinem Vater zu geben. Dann konnte ich gehen. Die beiden hilfsbereiten Mädchen waren schon nach Hause gegangen, deshalb humpelte ich barfüßig bzw. den linken Fuß im dicken Verband zurück zum Hannewackeldudelsee, um meine dort noch auf mich wartenden neuen Halbschuhe und die Socken zu holen. Aber so viel ich auch suchte, die Schuhe mit den Socken waren verschwunden. So humpelte ich den relativ weiten Weg von der Großmutterwiese bis zur Frohsinnstraße alleine nach Hause und hatte als kleiner Sechsjähriger furchtbare Angst, meinen Eltern klar zu machen, dass sie für mich zehn Reichsmark zu bezahlen hätten und dass meine Schuhe verschwunden seien. In der Tat war es zu Hause so, dass man mich für die Verletzung verantwortlich machte und über die Arztrechnung ein langes Gesicht zog. Eine richtige Katastrophe war aber der Verlust der noch fast neuen Halbschuhe. Neue Schuhe waren unmöglich zu beschaffen, die abgetragenen Schuhe meiner etwas älteren Schwester konnte ich nicht auftragen, weil ich größer war als sie. Ich hatte als Schuhe nichts anderes anzuziehen als meine Hausschuhe aus braun kariertem Stoff, bei denen vorne ein Loch hinein geschnitten worden war und die Zehen heraus schauten. Mit diesem lächerlichen Schuhwerk musste ich bis knapp vor Weihnachten herumlaufen, bis meine Eltern endlich ein paar neue Schuhe für mich organisieren konnten.

Ob das Kind, das meine herrenlos am Planschbecken herumstehenden Schuhe mitgenommen hatte, sich überlegt hat, welchen Verlust es mir damit zugefügt hat? Ich glaube, darüber hat man damals nicht nachgedacht.

 

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