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„Godelsbergindianer“ in den Röderbachswiesen – Naturentdeckungen 1966-1969

Im Alter von 13 bis 16 Jahren (also zwischen 1966 und 1969) zog ich sehr oft mit meinen Godelsberger Spielkameraden zu den Feuchtwiesen im Röderbachtal. Diese waren damals mehr oder weniger feucht – teilweise schon sumpfig – mit mehreren, von dem Fußweg am Röderbach zwischen der Schellenmühle und der Fasanerie/Lufthofweg kaum einsehbaren Tümpeln. Also ein für uns neugierige und erlebnishungrige Buben ein Gebiet, das es zu entdecken galt! Denn iPhones und das Internet – all das gab es ja noch nicht. Und dies dabei vor dem Hintergrund unserer damaligen „Vorbilder“ bzw. „Idole“ der Zelluloid-Traumfabrik: allen voran Winnetou, der edle, stolze Apachenhäuptling aus den in dieser Zeit aktuellen Karl May-Verfilmungen. Diese Filme inhalierten wir damals geradezu und  so wollten auch wir in der freien und weiten Natur unsere Abenteuer als furchtlose  und stolze „Rothäute“  ausleben. Neben einem solchen geistigen Rüstzeug waren wir aber auch expeditionstechnisch gut ausgerüstet. So  hatten wir neben Feld-Brotbeutel gefüllt mit Proviant,  Feldflasche und Essgeschirr einschließlich einem „Esbitkocher“ (kleiner, mit Trockenspiritus betreibbarer Klapp-Kocher) alles dabei. Ich war zudem besonders stolz auf mein Fahrtenmesser bzw. Dolch und meinen Feldkompass, den ich damals auch schon bedienen konnte. Meine Kameraden hatten sogar manches Mal noch einen Klappspaten und sog. Dreieckszeltplanen dabei. All diese Gegenstände stammten dabei aus den seinerzeit in den Familien noch recht zahlreich vorhandenen Überresten des Dritten Reiches.

Die Röderbachswiesen faszinierten uns, sie waren für uns irgendwie geheimnisvoll  und zogen uns sehr naturverbundene Buben einfach magisch an. Denn hier gab es viel zu entdecken und  schließlich konnten wir hier auch unsere „Mutigkeit“ beweisen.  Alleine die uns dort schon empfangenden umherschwirrenden Libellen fanden wir einmalig – zumal sie sich von uns auch nicht einfangen ließen.  In den Tümpeln selbst gab es viel Getier, wie Kamm- und Bergmolche, im Frühjahr hunderte Frosch-/Kröten-Kaulquappen sowie zahlreiche Gelb- und Rotbauchunken, die wir auch für unsere Terrarien zuhause fingen. Oft hatten wir bei diesen Fangaktionen auch große Gelbrandkäfer  oder  Libellenlarven im Kescher, die wir aber sofort wieder ins Wasser warfen, denn diese „Räuber“ waren für uns uninteressant. Aufgrund des feuchten Grundes wurden die Wiesen um die Tümpel  so gut wie nie gemäht – das Gras wurde also recht hoch. Dort gab es damals auch sehr viele schöne, grüne Laubfröschchen. Auch diese waren natürlich immer wieder „Ziel unserer Begierde“ – sie machten sich ja auch unheimlich schön in unseren heimischen Terrarien als „Wetterfröschchen“. Im Frühjahr waren diese Wiesen wunderschön bunt – zahlreiche Wiesenblüher sorgten so für ausreichend Nahrung  für viele  farbenfrohe und seltene Schmetterlinge, wie den Schwalbenschwanz, den kleinen Fuchs, das Pfauenauge oder auch den Bläuling.  Auch an sehr seltene Rispenorchideen  – das Knabenkraut – kann ich mich noch sehr gut erinnern.

Bei diesen Streifzügen zogen wir damals stets unsere Schuhe aus und liefen meist barfüßig oder auch nur „besockt“ mit hochgekrempelten Hosen durch diese feuchte Gegend. So wurden aber auch wir immer wieder von weniger angenehmen Lebewesen selbst „eingefangen“ – nämlich von Blutegeln! Diese „Vampire“ der „Wasserunterwelt“ mochten offensichtlich unsere junges Blut – aber nach dem Motto „ein Indianer kennt keinen Schmerz“ zogen wir sie einfach wieder ab – auch wenn es schon wehtat und manches Mal etwas blutete und juckte!

An den Ufern des Röderbaches, der  in diesem Bereich teilweise eingefasst war, wuchsen damals viele große Pfefferminz-Stauden – richtige Wiesen waren das. Und im heißen Hochsommer dufteten diese betörend.  Meist schlugen wir dort dann auch unser Biwak auf. Wir kochten uns aus diesen  frischen Pfefferminzblättern  den besten Pfefferminztee der Welt – davon bin ich auch heute noch überzeugt! Der mitgebrachte Proviant war für uns dann doch etwas ermüdete „Krieger“  einfach ein Genuss. Auch das Obst und die  Beeren, die wir unterwegs immer fleißig eingesammelt hatten, schmeckten nie besser. Wir waren zufrieden mit uns und unserer erfolgreichen „Expedition“. So machten wir uns dann wieder auf den Heimweg. Aber, oh weh, was werden unsere Eltern wieder über unser eingefangenes Getier und die verschmutzten Klamotten sagen – naja, ein Indianer steht  natürlich über solch unangebrachter Kritik – „Howgh – ich habe gesprochen!“

K.M. 2020

Hinweis zu den verwendeten Begriffen:

Die Wörter „Indianer“ und „Rothäute“ sind dem damaligen Sprachgebrauch entnommen und deshalb in Anführungszeichen gesetzt. Sie entsprechen der Originalwortwahl des deutschen Schriftstellers Karl May (1842 – 1912) in seinen Winnetou-Romanen. Es liegt somit ausdrücklich nicht in der Absicht des Autors, diese Begriffe in  benachteiligendem und diskriminierendem Sinne für indigene Menschen zu verwenden. Dieser Beitrag ist vielmehr jenseits der Wortwahl Ausdruck der Achtung, der Toleranz und der Akzeptanz gegenüber indigenen Menschen.

 

Das Röderbachtal ist heute Teil des Arten- und Biotopschutzprogramms der Stadt Aschaffenburg.

Arten- und Biotopschutzprogramm

 

Kommentare

  1. Eine interessante Erinnerung, die neben einem Einblick in die Freizeitaktivitäten von Kindern in den 1960er Jahren einen weiteren Denkanstoß bietet: Das Bild der indigenen Bevölkerung Amerikas, das insbesondere durch die genannten Filme nicht nur in Deutschland verbreitet und verankert wurde. Dieses romantisierte und stereotypisierte Bild indigener Menschen hat seit der Eroberung und Kolonialisierung Amerikas auch rassistische Stereotype begünstigt. Durch die im Text anklingende Exotisierung und der über die Filme vermittelten Idee, es handle sich bei den dargstellten Personen eher um Fantasiegestalten, als real existierende und um ihre Existenz kämpfende Menschen, hat sich dieses Bild bis heute gehalten. Es wird auch weiterhin in Kostümen, filmischen und literarischen Darstellungen, Kinderspielen und Sprichwörtern reproduziert. Ja, auch unsere Sprache hat kolonialrassistischen Rückstände erhalten. Indem wir Worte wie „Ind*ianer“ und „R*thaut“ verwenden, tragen wir dazu bei, dass sich das falsche Bild indigener Menschen und auch der damit verknüpfte antiindigene Rassismus erhält. Damit spiegelt sich auch in der oben geschilderten, zunächst unschuldig erscheinenden Geschichte das globale Erbe der Kolonialisierung Amerikas und die bis heute bestehenden Auswirkungen wider. Es ist wichtig, dass wir aus diesen historisch gewachsenen Strukturen lernen, um die Diskriminierung indigener Menschen nicht weiter zu befeuern.

  2. Vielen Dank für den ergänzenden Hinweis zu den genutzten Formulierungen. Es ist wichtig, dass Beiträge wie Ihrer auch in ein Portal wie dieses eingebracht werden, um zu diesem Thema zu sensibilisieren und anderen die Augen für Diskriminierung im Alltag zu öffnen. Daneben ist es natürlich auch ein spannender und eindrücklich geschilderter Einblick in Freizeitaktivitäten, wie sie heute sicher seltener zu finden sind.

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