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Die „Bayernwerk-Siedlung“ – eine fast schon vergessene Siedlung

Abb. 1: Leider Bayernwerk, Foto Josef Diepold, 1983, Stadt- und Stiftsarchiv, Fotosammlung

Für das 1951/52 im Hafengebiet Aschaffenburg Leider errichtete Dampfkraftwerk wurde entlang der Werksstraße, Stockstadter Weg, für das Personal eine neue Werksiedlung mit zuerst 22 Wohneinheiten errichtet (1), diese kamen zu den bereits bestehenden Wohnhäusern Stockstadter Weg Nr. 28, 26, 24 und 22 des schon seit 1924 (1) bestehenden Umspannwerkes hinzu. Zeitgleich entstanden weitere 32 Werkswohnungen in Aschaffenburg-Leider in der Augasse, Ohmstraße, Hertzstraße und Millerweg.

Die Siedlung direkt am Kraftwerk wurde zuletzt 1962 noch um einen weiteren Wohnblock erweitert und war, bis zur Stilllegung (Kaltreserve Ende 1999) und Rückbaus des Kraftwerks (ab 2001) und in Folge Ihres Abrisses, ein für viele Aschaffenburger unbekannter Wohnort. Zugehörig zum Stadtteil Leider jedoch entfernt am Ende des Hafengebiets gelegen.

Gerade die Entfernung zu Leider oder gar zur Stadt Aschaffenburg mit ihren Einkaufsmöglichkeiten schweißte die Bewohner, die in den Anfängen zumeist ohne Auto und somit auf den Stadtbus oder Hilfe untereinander angewiesen waren, zusammen. Davon könnten sicher noch einige ältere ehemalige Bewohner dieser Siedlung berichten.

Abb. 2: Bayernwerk Siedlung, Luftaufnahme, Foto aus Privatbesitz, ca. 1984

Abb. 3: Stockstadter Weg Pförtnerhaus 20 und Haus 20b/c im Bau, Foto aus Privatbesitz

Drei Generationen meiner Familie arbeiteten schon in diesem Kraftwerk. Mein Großvater Richard begann im Juli 1952 zur Einarbeitung im Bayernwerk, Kraftwerk Schwandorf, und wurde zur Inbetriebnahme Ende 1952 als Heizer in Aschaffenburg eingesetzt. Genau zu dieser Zeit bezogen meine Großeltern mit ihren sechs Kindern eine Werkswohnung in der Ohmstraße Haus Nr. 2 in Leider.

(Originaltext der Einstellungsmitteilung vom 18. Juni 1952 (2): Eine Wohnung wird Ihnen gegen Entrichtung der noch festzusetzenden Miete, nach Fertigstellung unserer Wohnsiedlung, jedoch nicht vor Ablauf der Probezeit, zur Verfügung gestellt.)

Mein Vater Adolf trat 1954 seine Lehre im Kraftwerk an und arbeitete bis 1997 dort. Nach seiner Hochzeit im Oktober 1960 zog er zu seiner Ehefrau Helena, meiner Mutter, in die Junggesellen-Wohnung (3) im Stockstadter Weg Haus Nr. 18 direkt am Kraftwerk. Meine Mutter bewohnte diese Wohnung im Erdgeschoss bereits seit November 1959. Sie war als Küchenhilfe und Verkäuferin in der Kantine des Kraftwerks von 1957 bis 1962 und später noch einmal von 1982 bis 1994 beschäftigt. 1962 zogen meine Eltern dann in eine Drei-Zimmer-Wohnung im Obergeschoss des Hauses Nr. 18 und später noch in eine Vier-Zimmer-Wohnung im Haus Nr. 20c.

Abb. 4: Bayernwerk Kantine, Helena an Verkaufstheke, Foto aus Privatbesitz, ca. 1982

Auch ich trat 1978 meine Ausbildung im Kraftwerk an, und blieb bis zur Schließung des Werks Ende 1999. Als ich 1984 eine Werkswohnung beantragte gab es noch strenge Vorschriften. Es konnten sich nur verheiratete Werksangehörige für eine Wohnung in dieser Siedlung bewerben. Von 1985 wohnten dann meine Frau Sabine und ich, später noch unsere beiden Kinder in der Siedlung. Zuerst bewohnten wir eine Drei-Zimmer-Wohnung im Haus Nr. 16 und zogen dann ins Haus Nr. 14 mit vier Zimmern, hier wohnten wir bis 2002.

Der Zusammenhalt der Siedlung war nach wie vor groß, man unterstützte sich gegenseitig, gerade auch, weil die Einkaufsmöglichkeiten im Umkreis sehr beschränkt waren. So gab es zum Beispiel in der Siedlung eine Eiersammelbestellung. Der Stockstädter Aussiedlerhof Auhof brachte wöchentlich Eier, welche von meiner Mutter, später von meiner Frau Sabine entgegengenommen, abgepackt und je nach Vorbestellung verteilt wurden. Wurst und Kleinigkeiten konnten in der werkseigenen Kantine eingekauft werden. Für weitere Einkäufe musste man nach Stockstadt, Leider oder nach Aschaffenburg in die Innenstadt. Eine gute Vorratshaltung war von Vorteil.

Wenn zu dieser Zeit auch das Auto zum Alltag gehörte, wechselten sich die Mütter ab, wenn es z. B. um Fahrten in den (doch weiter) entfernten Kindergarten nach Leider ging. Später nach der Einschulung begleiteten gerade die größeren Siedlungskinder die Kleinen, um mit dem am Waldfriedhof abfahrenden Stadtbus (zu Fuß durch das Hafengebiet ohne Gehwege war es zu gefährlich) zur Schule zu gelangen und am Mittag wieder zurück.

Für Kinder waren die Spielmöglichkeiten in der Siedlung einmalig. Neben großen Grünflächen mit Bäumen und Büschen, großen Sandkästen an den Häusern, einem separaten Spielplatz stand sogar ein gemauertes Planschbecken für die Sommerzeit zur Verfügung. Da es innerhalb der Wohnflächen kaum Autoverkehr gab, nutzten die Kinder auch gerne die Wege rund um die Wohnhäuser zum Spielen. Falls sich doch einmal ein Kind Richtung Werkstraße bewegt hatte, wurde es vom Werkspförtner sofort in den sicheren Bereich zurückgeschickt.

Initiiert von den Eltern der Siedlung wurde eine schöne Tradition zu St. Martin über die Jahre in der Siedlung aufrechterhalten. Mit Laternen ausgerüstet gingen alle Kinder der Siedlung an diesem Abend, geführt von den ältesten Kindern, von Wohnung zu Wohnung. Hier wurde jeweils ein Martinslied gesungen, zum Dank gab es von den Bewohnern Süßigkeiten und Geld. Ganz nach dem guten Gedanken des St. Martins wurden am Ende des Umzugs die Süßigkeiten von helfenden Müttern in Tüten aufgeteilt und jedes Kind bekam eine mit nach Hause. Das gesammelte Geld aber wurde als Spende an bedürftige Kinder überwiesen.

Beliebt war auch die werkseigene Kegelbahn im Keller des Verwaltungsgebäudes; diese wurde von Jung und Alt für Kegelabende sowie kleine Feierlichkeiten gerne benutzt. Jeder Siedlungsbewohner könnte sicher noch weitere Fakten und Anekdoten berichten. Leider ist nicht viel von ihr übriggeblieben. Am Stockstadter Weg, entlang des Waldfriedhofs, steht noch das erste 1922/23 (4) erbaute Wohnhaus Haus Nr. 28, zweigeschossig mit vier Wohneinheiten (WE), sowie zwei später errichtete Wohnblocks Haus Nr. 24 und 26, ebenfalls zweigeschossig mit zwei und vier WE.

Dem Abriss zum Opfer (6) fielen entlang der ehemaligen Werkstraße linksseitig zwei Doppelhaushälften Haus Nr. 10. Sie wurden vom jeweiligen Werksleiter und Stellvertreter mit ihren Familien bewohnt. Die weiteren drei Wohnblockreihen linksseitig waren zweigeschossig, in Haus Nr. 12 gab es vier WE. Im Haus Nr. 14, ursprünglich sechs WE, später wurden vier WE sowie zwei sogenannte Apartments (5) angelegt. Haus Nr. 16 und 18 hatten ursprünglich je vier WE und je zwei Junggesellenwohnungen. Diese Junggesellenwohnungen wurden im Erdgeschoss zur Wohnflächenvergrößerung an eine Wohnung angegliedert. Im Obergeschoss blieben diese erhalten.

Auch das mit der Errichtung des Kraftwerks erbaute zweigeschossige Pförtnerhaus Nr. 20 mit zwei WE (später war im Erdgeschoss die Praxis des Werksarztes) fiel dem Abriss zum Opfer wie auch die entlang der Bahngleise am Waldfriedhof befindlichen zweigeschossigen Wohnhäuser, Stockstadter Weg 20a, Baujahr 1955 mit sechs WE sowie das alte Pförtnerhaus Nr. 22 des Umspannwerks mit zwei WE aus dem Jahr 1948/49. Rechts der Werkstraße stand der 1962 errichtete zweigeschossige Wohnblock Haus Nr. 20b und c zusammen mit sechs Wohnungen. Auch dieser wurde abgerissen.

Heute führt die ehemalige Werkstraße ohne Schranke und Pförtner durchs alte Bayernwerksgelände, auch eine neue Straßenbezeichnung, Germanenstraße, gibt es. Der Stockstadter Weg entlang des Waldfriedhofs besteht bis heute. Das Gelände der ehemaligen Siedlung ist nun mit den verschiedensten Betrieben neu besiedelt. Nichts erinnert mehr an diese einstige schöne Wohnsiedlung. Was bleibt, sind lediglich die Erinnerungen an vergangene Zeiten.

Aschaffenburg, 01.06.2022

Hans-Jürgen Koss

 

Anmerkungen:

(1) Main-Echo Nr. 226 vom 20. Dezember 1952 (Sonderbeilage „Quelle von Kraft und Licht“

und Broschüre „Dampfkraftwerk Aschaffenburg, Bayernwerk AG (undatiert)

(2) Schreiben zu Einstellung, Bayernwerk AG, (Privatbesitz)

(3) Junggesellen-Wohnung: 1 Zimmer mit Kochnische und WC mit Waschbecken

(4) lt. Hausinschrift

(5) Apartment: 1 Zimmer, Küche und Bad

(6) Abriss der Wohnhäuser in Abschnitten zwischen 2004 und 2006/07

Kommentare

  1. Lieber Hans-Jürgen Koss,

    danke für diesen schönen Beitrag. Mein Vater war 1951 als Montagearbeiter im Bayernwerk und wurde 1953 fest angestellt. Er zog mit seiner Frau, meiner Mutter, in die Siedlung in Leider Hertzstr. 2. 1955 wurde ich geboren und zusammen zogen wir nach dem Auszug Eurer Familie in die Ohmstr. 2. Mit Peter Koss (müsste Dein Onkel sein?) hatte ich bis zu seinem Tode Kontakt und Monika, seine Schwester, war in meinen frühen Kindheitstagen Spielgefährtin.

    Mein Papa, Ernst HEINZ, war Arbeitskollege von Adolf Koss, Deinem Papa.

    Liebe Grüße
    Christel Gerlach, geb. Heinz

    1. Sehr geehrte Frau Gerlach,

      Dankeschön für die ausführliche Beschreibung.

      Es bleibt allerdings die Frage, weshalb die Siedlung denn überhaupt abgebrochen wurde. Der Grund liegt meiner Meinung nach zu einem großen Teil im Immissionsschutzrecht: Von der Siedlung für Werksangehörige ging für das Bayernwerk und die anderen Gewerbebetriebe im Hafengebiet nämlich keine Gefahr von Klagen aus wegen der Überschreitung der normalerweise geltenden Grenzwerte bei den Lärm- und sonstigen Immissionen.

      Bei einer Änderung der Nutzung von einer Werksiedlung hin zu einer normalen Wohnsiedlung (Allgemeines Wohngebiet oder Reines Wohngebiet) hätten die
      (betriebsfremden) Bewohner Anspruch darauf bekommen, dass die benachbarten Betriebe die entsprechend niedrigeren Grenzwerte einhalten müssen, was wohl für einige das „Aus“ bedeutet hätte.

      Da es mit der Schließung des Kohlekraftwerks weniger Bedarf an Werkswohnungen gab, und Betriebsfremde ohne eine Nutzungsänderung nicht in die bestehenden Wohnungen hätten einziehen dürfen, hätten die meisten Wohnungen leer gestanden.

      Mit der Siedlung ist ja leider auch das legendäre Cafe Waldfriedhof verschwunden, das aber, glaube ich, nicht direkt dazugehört hat.

  2. Vielen Dank Hans-Jürgen Koss. Ich bin im Internet unerwartet auf diesen Anker gestoßen, an dem sich eigene Erinnerungen festmachen lassen.

    Meine Eltern sind 1952 mit meiner Schwester und mir in das Haus Nr. 12 eingezogen. Im Herbst wurde ich „von hier“ eingeschult. Wir hatten vorher in Schwandorf ebenfalls in einer Bayernwerk-Siedlung in ähnlicher Randlage gewohnt; Leider war dort Dachelhofen. In Schwandorf war alles aus einer früheren Zeit; die Wohnverhältnisse waren schlecht. In Aschaffenburg war alles neu, modern, vergleichsweise luxuriös auch im lokalen Kontrast; an der Darmstädter Straße gab es noch Behelfsunterkünfte für Sudetendeutsche Familien. Im Gespräch wurden die Häuser nicht durch ihre Nummern unterschieden; man wohnte im Zwei-, Vier-, Sechs- oder Achtfamilienhaus.

    Ein Auto hatten wir nicht, aber es kamen mit Auto sehr regelmäßig die Milchfrau und der Bäcker und nach telefonischer Bestellung (über die Werkszentrale) der Besitzer eines Edeka-Tante-Emma-Ladens.

    Die Volksschulklasse war provisorisch im Schönborner Hof untergebracht. Der Schulweg bestand aus einer Busfahrt vom Waldfriedhof durch Leider zum Freihofsplatz. Eine zeitlang mussten die Passagiere vor der nur notdürftig geflickten alten (und einzigen) Mainbrücke aussteigen. Sie haben dann die Brücke zu Fuß überquert, während der Bus leer herüberfuhr. Auf der anderen Seite konnten sie wieder einsteigen. Der Unterricht fand im Schichtbetrieb statt, d.h. mal hatte die eine, mal die andere Klasse den Raum vormittags oder nachmittags. Viel später erlaubten mir meine Eltern, mit dem Fahrrad zur Schule zu fahren; nach langem Kampf, obwohl die Strecke bis zum Main dank Schönbuschallee autofrei war.

    Nach der Schule ließ sich viel erkunden. Der Waldfriedhof war nur ganz vorne belegt und dahinter praktisch offene Wildnis. Auf der anderen Seite der Siedlung lag zwischen Werksgelände und Darmstädter Straße eine riesige Brache und mittendrin die sogenannte Panzerhalle – eine langgestreckte Ruine ohne Dach, deren Seiten aus zahllosen hohen Toren ohne Inhalt bestanden. Es gab weitere Reste früherer Bebauung in Form von aus Betonstücken und Armierungseisen bestehendem Schutt. Später wurde das Gelände von der Viktoria-Spedition übernommen. Was war vor dem Bayernwerk dort? Ich habe es nicht erfahren.

    Ein Treffpunkt nach Feierabend war die Gaststätte in einer Holzbaracke am Rand der Werkszufahrt, wohl die ehemalige Baukantine. Hier habe ich zum ersten Mal einen Fernsehapparat in Betrieb gesehen.

    1979 nach seiner Pensionierung endete das Mietverhältnis meines Vaters. Ich war danach nie mehr dort.

  3. Hallo Hans-Jürgen,

    ich denke, wir können uns duzen, Matthias Wenzel, ich bin Baujahr 1959 und kann mich, glaube ich, noch an Dich und Deine Schwester erinnern (???). Ihr wart ca. 2 Jahre jünger (??). Ist ja interessant, das damals Erlaubte aus einer anderen Sicht als der meinen zu sehen. Ja, die Siedlung, ich habe es aber mehr so als die Bayernwerkler und die Leiderer gesehen. Ja, meine Kindheit, wie du geschrieben hast, war oberhalb des Vahlsbergerl Stockstadter Weg 24. Benannt nach einem Elektromeister, einem Vorgänger meines Vaters als Elektromeister vom Umspannwerk. Ja, war immer interessant, beim Schlittenfahren sind die Kinder zusammengekommen, an diesem Hügelchen, später dann auch unter Billigung des Elektromeisters :-), direkt hinten am Wald vom Waldfriedhof gegenüber, nahe der Schaltanlage, an einem steileren Hang mit niedrigen Latschen oder Kiefern bewachsen … Viele Namen kommen da einem in den Sinn, und Begebenheiten. Tja, vielleicht schreibe ich doch einmal meine Erinnerungen auf.

    Die Martinsumzüge, ja, meine Mutter war kreativ und hat aus einem kleinen alten Karton, mit Butterbrotpapier hinterlegt und mit getr. Blättern beklebt, ein Kunstwerk geschaffen. Aber mein größter Wunsch war, immer eine stinknormale Sonne oder Mond Laterne, tja. Ich habe im Fundus meines Vaters (der 2013 verstorben ist) eine Menge Bilder und Unterlagen vom Aufbau des Umspannwerks entdeckt und vom Betrieb bis zu seiner Pensionierung (ca. 1992). Ich lebe seit 1980 in München, erst 1976 über Würzburg und dann in die Landeshauptstadt. Interessant auch, dass ich in Schweinfurt geboren wurde (weil mein Vater dort der Elektromeister war). Mit 5 Jahren bin ich nach Aschaffenburg gekommen, denn da wurde die Elektromeisterstelle in Aschaffenburg frei, rechtzeitig zum Volksschulbeginn. Tja, meine ganzen Vorfahren haben Leider nie verlassen, und ich bin jetzt schon länger hier in München, als die 16 Jahre in Aschaffenburg … (matthias_wenzel@t-online.de)

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