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Dossier Erich Stenger

Stengerstraße (Damm), benannt 1962 nach

Erich Stenger (1878 – 1957)

Fotochemiker, Sammler, Experte für Fotogeschichte (Umwidmung der Straße im Jahr 2024)

  • * 5. August 1878 in Aschaffenburg
  • 1888 – 1897 Besuch des humanistischen Gymnasiums in Aschaffenburg
  • 1897 – 1903 Studium der Chemie und verwandter Gebiete (auch Mineralogie und Philosophie) in München (TH und Universität) sowie ab 1899 an der Universität Kiel
  • 1903 Promotion in Kiel zum Dr. Phil., Dissertation „Über eine neue Synthese unsymmetrisch substituirter Pyrrole; Über Acetonoxaminsäure“
  • 1903 – 1904 Militärdienst (Einjährig Freiwilliger) in München
  • 1904 – 1905 Assistent am Physikalischen Institut der TH Hannover (bei Julius Precht)
  • 1905 – 1928 Assistent von Adolph Miete am „Phototechnischen Laboratorium“ der TH Berlin-Charlottenburg; ab 1919 Privatdozent (kumulative Habilitation), ab 1922 außerordentlicher Professor
  • 1906 Heirat mit Margaretha (Margarete) Schmelzer (zwei Kinder)
  • 1915 – 1919 „Freiwilliger Kriegsdienst bei der Fliegertruppe seit Sept. 15; entlassen als Ingenieurstellvertreter Nov. 19“
  • Ca. 1925 – 1933 Präsentationen von Teilen seiner fotografiegeschichtlichen Sammlung in historischen Kabinetten großer Fotoausstellungen
  • 1928 – 1934 Bibliothekarsrat an der Preußischen Staatsbibliothek Berlin (Leiter der Dokumentensammlung)
  • 1929 Veröffentlichung „Geschichte der Photographie“; Mitglied des Deutschen Museums München
  • Ca. 1933 – 1945 Mitgliedschaften im Reichsbund Deutscher Beamter, NS-Lehrerbund, NS-Opfergemeinschaft, Reichsluftschutzbund (RLB)
  • 1933 Ausstellung „Die Kamera“ in Berlin
  • 1934 – 1945 Professor für angewandte Fotochemie an der TH Berlin (Leiter des „Photochemischen Laboratoriums“, nun unter dem Namen „Institut für angewandte Photochemie“)
  • 1934 – 1945 Mitglied im NS-Dozentenbund
  • 1936 Ausstellung „Film und Foto“ in Düsseldorf
  • 1938 Veröffentlichung „Die Photographie in Kultur und Technik. Ihre Geschichte während hundert Jahren“
  • 1937 – 1943 Vorstand der „technischen Untersektion“ in der „Kommission zur Bewahrung von Zeitdokumenten, Sektion Bildpresse“ (angesiedelt im Propagandaministerium)
  • 1939 Wahl zum Schriftführer des Vorstandsrats des Deutschen Museums
  • 1942 Ausstellung „Photographie einst und jetzt“ in Sofia (Bulgarien)
  • 1944 Auslagerung des „Instituts für Photochemie“ an die Technische Hochschule Brünn
  • 1945 Privatgelehrter in Kreuzwertheim (Unterfranken); Autobiografie: „Lebenserinnerungen eines Sammlers“
  • 1949 Veröffentlichungen „Die Steingutfabrik Damm bei Aschaffenburg 1827–1884“ und „Die Geschichte der Kleinbildkamera bis zur Leica“
  • 1951 Mitbegründer der „Deutschen Gesellschaft für Photographie“ (DGPh)
  • 1951/52 Ausstellungen seiner Werke auf der „photokina“ (1951) und auf der „Weltausstellung der Photographie“ in Luzern (1952)
  • 1955 Verkauf seiner Sammlung zur Fotogeschichte an die Agfa AG
  • † 24. September 1957 während eines Urlaubs in San Remo (Italien)

Ehrungen

  • Kriegsverdienstkreuz (I. WK)
  • 1926 Mitglied der Gesellschaft Deutscher Lichtbildner (GDL)
  • 1928 (oder 1931) Hans-Wagner-Medaille (Auszeichnung für hervorragende philatelistische Betätigung)
  • 1939 Lindenberg-Medaille (Auszeichnung für außergewöhnliche Leistungen auf dem Gebiet der philatelistischen Forschung)
  • 1942 Ehrenmitglied der Deutschen Photographischen Gesellschaft
  • 1955 David Octavius Hill-Medaille der GDL
  • 1956 Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für Photographie (DGPh)
  • 1978 – 2010 Verleihung Erich-Stenger-Preis der DGPh (2012 – 2018 umbenannt in „DGPh-Forschungspreis Photographiegeschichte“; seit 2020 ersetzt durch die Preise „Thinking Photography. DGPh-Forschungspreis“ und „Writing Photography. DGPh-Preis für innovative Publizistik“)

 

Der in Aschaffenburg geborene Fotochemiker Erich (Waldemar) Stenger war seit seiner Jugend ein begeisterter Sammler, besonders auf dem Gebiet der Philatelie und der Steingutfabrikation (für Aschaffenburg wichtig: die Sammlung zur Steingutmanufaktur in Aschaffenburg-Damm, die bereits sein Vater anlegte, und die detaillierte Publikation zur Geschichte der Fabrik, 1949). Während seines Studiums und seiner Berufstätigkeit trug Erich Stenger eine große private Sammlung zur Geschichte der Photographie zusammen (Bilder, Dokumente, Bücher, Autografen und Geräte), die er seit Mitte der 1920er Jahre auf großen Fotoausstellungen in Teilen präsentierte. Die Sammlung ist heute Bestandteil des Museums Ludwig in Köln.

Wirken in der NS-Zeit

Während der NS-Zeit galt Erich Stenger als Koryphäe auf dem Gebiet der Fotogeschichte und seine private Sammlung zur Fotogeschichte als eine der größten europaweit. Seit 1934 wirkte er als Professor für angewandte Fotochemie an der TH Berlin. Den Forschungen von Miriam Halwani, Cornelia Kemp und Rolf Sachsse folgend stellte Erich Stenger seine Arbeit und seine Sammlung in den Dienst des Nationalsozialismus. „In dem Stenger die Leistungen der Deutschen an der Entwicklung der Fotografie betonte, hingegen diejenigen jüdischer Wissenschaftler verschwieg, machte er die Hundertjahrfeier der Fotografie 1939 zum ideologiekonformen Ereignis“, urteilt Miriam Halwani.[1] Cornelia Kemp sieht Erich Stenger als widersprüchliche Persönlichkeit „im Konflikt zwischen historischer Objektivität und politischem Opportunismus“.[2] Rolf Sachsse fasste das Wirken Stengers in der NS-Zeit in seinem Beitrag für die Neue Deutsche Biographie aus dem Jahr 2013 wie folgt zusammen:

„Für die Berliner Ausstellung ‚Die Kamera‘ 1933 agierte er bereits im Sinne der neuen Machthaber als Beauftragter des Propagandaministeriums. 1938 erschien ‚Die Photographie in Kultur und Technik‘, die er durch größere Artikelserien in Amateur- und Fachzeitschriften vorbereitet hatte. Allgemein galt S[tenger] zu diesem Zeitpunkt als höchste Autorität auf dem Gebiet der Photogeschichte in Deutschland, was mit erheblicher Anpassung an die NS-Ideologie verbunden war: So unterschlug er den jüd[ischen] Assistenten Miethes, Arthur Traube (1878–1948), und dessen wissenschaftliche Leistung, während er den Leibphotographen Hitlers, Heinrich Hoffmann (1885–1957), wortreich rühmte. Zum hundertjährigen Jubiläum der Photographie 1939 publizierte S[tenger] eine Reihe von Texten, hielt zahlreiche Vorträge und war auch an der Neuaufstellung der Abteilung Photographie im Deutschen Museum München beteiligt. 1939 wurde S[tenger] zum Schriftführer des Vorstandsrats des Deutschen Museums gewählt; 1937–43 war er Vorstand der ‚technischen Untersektion‘ in der ‚Kommission zur Bewahrung von Zeitdokumenten, Sektion Bildpresse‘, die im Propagandaministerium angesiedelt war. Zeitlebens versuchte er, den dt. Anteil an der Photogeschichte übermäßig hoch darzustellen, etwa durch die Hervorhebung von Johann Heinrich Schulze (1687–1744) als Entdecker der Lichtempfindlichkeit von Silbersalzen oder durch die zu starke Herausstellung der Verdienste von Hermann Wilhelm Vogel (1834–98).“[3]

Miriam Halwani (heute verheiratete Szwast), seit 2013 Kuratorin der Fotografischen Sammlung im Museum Ludwig (Köln), das neben Erich Stengers tradierter Sammlung zur Fotogeschichte auch dessen Nachlass bewahrt, hat sich intensiv mit dem Sammler auseinandergesetzt. Sie widmet ihm in ihrer „Geschichte der Photogeschichte 1839 – 1939“ mehrere Unterkapitel und brachte 2014 Teile seiner lange unveröffentlichten Autobiografie „Erinnerungen eines Sammlers“ (1945) heraus, versehen mit Kommentaren von ihr sowie von Cornelia Kemp und Ulrich Pohlmann. Cornelia Kemp, Kuratorin der foto- und filmtechnischen Abteilung des Deutschen Museums in München, hat sich besonders mit Erich Stengers Wirken im Deutschen Museum im Jubiläumsjahr der Fotografie 1939 beschäftigt. Die folgenden Ausführungen, die die zitierte Zusammenfassung von Rolf Sachsse vertiefen und ergänzen, stützen sich auf die veröffentlichten Ergebnisse der beiden Wissenschaftlerinnen (siehe Literatur).

Schon 1933 agierte Erich Stenger als „Beauftragter des Propagandaministeriums“ im Rahmen der Ausstellung „Die Kamera“ (noch vom Werkbund geplant, schließlich vom Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda organisiert). Er zeichnete hier verantwortlich für die Bereiche „Geschichte, Entwicklung und Technik der Fotografie“, „Fotografie als Förderin deutschen Volkstums, deutscher Heimatkunde und deutscher Arbeit“ sowie für die „Fotografie als Helferin wissenschaftlicher Forschung“ und „Lehrstätten für Fotografie“. In seinen Lebenserinnerungen schreibt Erich Stenger:

„Ich selbst hatte die Geschichte und die gesamte wissenschaftliche Anwendung der Photographie zu betreuen und mit allem Dazugehörigen fast die ganze Funkhalle und einige Großräume zu versorgen.“[4]

Im Bereich der Geschichte der Fotografie waren Aufnahmen des „Reichsbildberichterstatters“ Heinrich Hoffmann zur „Geschichte der nationalsozialistischen Bewegung“ prominent platziert. In seiner Kulturgeschichte der Fotografie (1938) wird Stenger den Leibfotografen Adolf Hitlers als einzigen modernen, den Stand des Bildberichterstatters repräsentativ vertretenden Fotografen bezeichnen, dessen „Bilder aus dem Leben des Führers und der Bewegung sind volksverbunden für uns und spätere Zeiten; sie spiegeln die Einigung und Erstarkung der Nation, stehen im Dienst des Aufbaues und der Neugestaltung und dienen den Aufgaben des Friedens“.[5] Zur Bestätigung findet sich im Bildteil eine Aufnahme Hoffmanns von Hitler und Mussolini. Ganz offensichtlich bezieht Erich Stenger in seine Geschichte der Fotografie Propagandamaterial ein. In einem Aufsatz aus dem Jahr 1937 verwies Erich Stenger auf die besondere Fähigkeit eines modernen Fotografens („Fachlichtbildners“) des „neuen Reiches“ im Allgemeinen:

„[A]ls neuzeitlicher Handwerker hat er neben seiner Technik das Sehen gelernt, das von ihm geschaffene Bild des deutschen Seins atmet die meisterhafte Erfassung und in ihr die Liebe zum Beruf und zur deutschen Art und Scholle.“[6]

Vieles in der Ausstellung „Die Kamera“ war noch vergleichbar zu früheren Ausstellungen. Neu war hingegen der Verweis auf den „rassenkundlichen“ Einsatz der Fotografie, den Erich Stenger im Ausstellungskatalog wie folgt kommentierte:

„Der nationale Staat in seiner zielbewussten Arbeit der Volksverbesserung durch körperliche Ertüchtigung und Emporführung und durch rassenbedingte Reinhaltung des einzelnen Individuums, verwendet fotografische Bildbeweise in seiner wissenschaftlichen und propagandistischen Tätigkeit. Beispiel und Gegenbeispiel vermitteln dem Beschauer Einblick in die geradlinige Zielsetzung dieser der Volksgesundheit und dem Neuaufbau dienenden einzigartigen Bestrebung.“[7]

In seinen Veröffentlichungen stellte Erich Stenger den deutschen Anteil an Erfindung und Entwicklung der Fotografie besonders heraus. Im Vorwort zu „Photographie in Kultur und Technik“ 1938 betonte er „die Leistungen deutscher Männer“ und verwehrte sich gegen Publikationen, die die Fotografie als „rein ausländische Erfindung“ darstellten:

„Es war ein Deutscher, der das früheste Lichtbild erzeugt hat, es war ein Deutscher, der das Wort ‚Photographie‘ zuerst in aller Öffentlichkeit brauchte, und wiederum war es ein Deutscher, welcher der Lichtbildnerei die Vollendung gab […].“[8]

Die Erfindung der Fotografie national zu besetzen, zeichnete sich seit den 1920er Jahren auch in Frankreich und England ab. „Chauvinismen, ja Rassismen bezüglich der Erfindung der Fotografie finden sich allseits“, konstatiert entsprechend Miriam Halwani.[9] Erich Stenger negierte zudem in seiner Kulturgeschichte der Fotografie den Anteil von Juden an der Entwicklung der Fotografie, etwa die Leistungen von Arthur Traube. Auf die Nachfrage eines Kollegen nach Kriegsende antwortete Erich Stenger:

„It would have been impossible and would resulted in a prohibition of the book, if deliberately a German Jew would have been mentioned. This risk I could not take.”[10]

Im Ausland wurde die Kulturgeschichte Erich Stengers bereits von zeitgenössischen Rezensenten ob ihres nationalistischen Tons und der beschriebenen Leerstellen kritisiert.[11] Avantgardistische und experimentelle Fotografie spielen in der Kulturgeschichte kaum eine Rolle.

Immer wieder war Erich Stenger während der NS-Zeit als Koryphäe der Fotogeschichte und deren Sammler gefragt. 1939 war er maßgeblich an der Neugestaltung der fotografischen Abteilung im Deutschen Museum beteiligt. Hitler-Aufnahmen von Heinrich Hoffmann spielten darin eine herausgehobene Rolle.[12] Teile seiner fotogeschichtlichen Sammlung wurden etwa 1936 im Rahmen der Ausstellung „Film und Foto“ in Düsseldorf gezeigt; 1942 verantwortete Erich Stenger die Ausstellung „Die Photographie einst und jetzt“ in Sofia (Bulgarien).[13] Der Werberat der deutschen Wirtschaft verfügte dort über angemietete Räumlichkeiten, die Stenger bespielte. In seinem „Bericht über eine Reise nach Sofia (Bulgarien)“ schreibt Stenger über den Erfolg der Ausstellung: „[…] glaube ich annehmen zu dürfen, dass ich meine Aufgabe, im Ausland für die deutschen Belange zu werben, nach besten Kräften gelöst habe.“[14] Eine geplante Ausstellung in New York 1939, für die er Leihgaben seiner Sammlung zur Verfügung stellen sollte, kam nicht zustande.

In seiner Arbeit als Professor für angewandte Fotochemie an der TH Berlin seit 1934, als Leiter des „Photochemischen Laboratoriums“, nun unter dem Namen „Institut für angewandte Photochemie“, war Erich Stenger an Kriegsaufträgen des Reichsministers der Luftfahrt beteiligt, wie Dokumente im Archiv der TU Berlin nahelegen. Demnach leitete er 1940 „Experimentelle Versuche von Photographie durch Nebel“.[15] An anderer Stelle wird als Forschungsauftrag „Sichtbarmachung einer nicht entzifferbaren Schrift“ vermerkt.[16] Das „Institut für angewandte Photochemie“ wurde im Frühjahr 1944 an die Technische Hochschule nach Brünn ausgelagert – und Erich Stenger mit ihm. Er pendelte 1944 nur für Kurzaufenthalte nach Berlin.

Erich Stenger war offensichtlich kein Mitglied der NSDAP. In den eingesehenen Beständen im Bundesarchiv Berlin fanden sich Hinweise auf Mitgliedschaften im Reichsluftschutzbund (RLB), im Reichsbund Deutscher Beamter, im NS-Lehrerbund sowie in der NS-Opfergemeinschaft.[17] In der Hochschullehrter-Kartei des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung wird keine politische Tätigkeit vermerkt. Erich Stenger war Mitglied der 1937 von Joseph Goebbels gegründeten „Kommission zur Bewahrung von Zeitdokumenten, Sektion Bildpresse“, die im Propagandaministerium angesiedelt war.[18] Zu den Mitgliedern der Kommission zählte auch Heinrich Hoffmann, zu dem Erich Stenger nachweislich seit 1935 in Kontakt stand. Hoffmann schrieb denn auch ein Vorwort für Stengers „Photographie in Kultur und Technik“ (1938).

Im Staatsarchiv Würzburg fanden sich auf Anfrage keine Entnazifizierungsdokumente tradiert. Allerdings gibt es im Nachlass Stengers im Museum Ludwig (Köln) Dokumente, die ein Verfahren vor der Spruchkammer Marktheidenfeld belegen.[19] Demnach wurde Erich Stenger am 19. Januar 1948 von der Spruchkammer Marktheidenfeld als „Mitläufer“ eingestuft und zu einer Strafe von 50 Reichsmark verurteilt. Aus anderem Schriftverkehr geht seine Mitgliedschaft im NS-Dozentenbund hervor. Erich Stenger selbst sah sich nach Kriegsende als „in keiner Richtung politisch belastet“.[20]

Nach Kriegsende lebte Erich Stenger im bayerischen Kreuzwertheim, wo seine Frau bereits seit 1943 bei Verwandten Zuflucht gefunden hatte. Dort verfasste er im Spätsommer 1945 seine Memoiren unter dem Titel „Lebenserinnerungen eines Sammlers“. Das Typoskript befindet sich – in Form eines Zettelkastens – im Museum Ludwig; die umfangreichen Teile zur Fotogeschichte sind, wie erwähnt, in kommentierter Form von Miriam Halwani herausgegeben. „Stenger schreibt seine Memoiren in einem komplett ahistorischen Kontext, in dem die gesamte politische Entwicklung der 1930er Jahre ausgeblendet ist; den Begriff Nationalsozialismus sucht man in seinem Text vergeblich“, kommentiert Cornelia Kemp.[21] Der Verbleib großer Teile seiner an unterschiedliche Orte ausgelagerten Sammlungen war ihm zu diesem Zeitpunkt (Sommer 1945) noch unbekannt. Umfangreiches Material befand sich etwa in Brünn, wohin sein Institut ausgelagert worden war.

Die Argumente, wonach Erich Stenger sich „untadelig“ verhalten habe, als er gegen den Ausschluss mehrerer nichtarischer Freunde aus Briefmarkenverbänden mit dem eigenen Austritt reagierte, überzeugen Cornelia Kemp nicht; in anderen „arisierten“ Verbänden sei er schließlich verblieben. „Ganz offensichtlich wurde Stenger nur dann aktiv“, so Kemp, „wenn antisemitische Diskriminierungen seinen eigenen Wirkungskreis berührten“.[22] So setzte er sich für die Tochter von Hermann Wilhelm Vogel ein, die mit einem Nichtarier verheiratet war. Stengers Haltung in der NS-Zeit sei mit der Zuschreibung „konservativ-unpolitisch“ oder mit „Naivität den politischen Verhältnissen gegenüber“ aufgrund seines Handelns nur unzureichend gekennzeichnet:

„Stenger, der offenbar nicht bereit war, auf seine in der Weimarer Zeit mühsam erarbeitete Position eines Fotoexperten und damit verbundene gesellschaftliche Anerkennung zu verzichten, gehört damit zu jener großen Schar von Intellektuellen, für die das Interesse an der eigenen Profilierung stärker wog als eine kritische Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Ideologie.“[23]

Anmerkung

Hinsichtlich der Straßenbenennung in Aschaffenburg Anfang der 1960er Jahre findet sich in den tradierten Dokumenten folgende Begründung vermerkt:

„Damit soll das Andenken an den bedeutenden Gelehrten, der Ordinarius für Fotochemie an der TH Berlin war und sich durch zahlreiche Publikationen über die Fotochemie einen internationalen Namen erworben hat, wachgehalten werden. Weiterhin ist Prof. Stenger auch als Erforscher der Aschaffenburger Geschichte (Schönbusch und Monografie über die Steingutfabrik Damm) hervorgetreten.“[24]

 

Quellen:

  • BArch, R 4901/13277
  • BArch, R 26-III/90683
  • SSAA, ZAS 01_4489
  • SSAA, SBZ II, 904
  • Archiv der TU Berlin, 434 Nachlass Narath, Albert (1900-1974), Nr. 54
  • Museum Ludwig (Köln), Sammlung Agfa, Stenger-Archiv, Ordner Originalmaterialien I

Literatur:

  • Halwani, Miriam: Geschichte der Fotogeschichte 1839–1939. Berlin 2012.
  • Halwani, Miriam (Hrsg.): Photographien führen wir nicht … Erinnerungen des Sammlers Erich Stenger (1878–1957). Anlässlich der Ausstellung „Das Museum der Fotografie: eine Revision“ im Museum Ludwig Köln. Mit Kommentaren von Miriam Halwani, Cornelia Kemp und Ulrich Pohlmann. Heidelberg/Berlin 2014.
  • Kemp, Cornelia: Das hundertjährige Jubiläum der Fotografie und das Deutsche Museum. Ein Balanceakt zwischen wissenschaftlichem Anspruch und NS-Propaganda? In: Trischler, Helmut/Wolff, Stefan L./Vaupel, Elisabeth (Hrsg.): Das Deutsche Museum im Nationalsozialismus. Eine Bestandsaufnahme. Göttingen 2010, S. 412–448.
  • Pollnick, Carsten: Aschaffenburger Straßennamen. Aschaffenburg 1990.
  • Sachsse, Rolf: Erich Stenger, Photochemiker, Sammler. In: Neue Deutsche Biographie (NDB), Bd. 25, Berlin 2013, S. 249–250.
  • Sachsse, Rolf: Daguerre-Büste, Photographenmarsch und Werbetonfilm. Jubiläumsausstellungen und Geburtstagsfeiern für die Photographie. In: Dewitz, Bodo von/Matz, Reinhard (Hrsg.): Silber und Salz. Zur Frühzeit der Photographie im deutschen Sprachraum (1839–1860). Kataloghandbuch zur Jubiläumsausstellung 150 Jahre Photographie. Köln et al. 1989, S. 584–597.
  • Stenger, Erich: Deutschland und die Entwicklungsgeschichte der Fotografie. In: Gemeinnützige Berliner Ausstellungs-, Messe- und Fremdenverkehrs-GmbH (Hrsg.): Die Kamera. Ausstellung für Fotografie, Druck und Reproduktion. Amtlicher Katalog und Führer. Berlin 1933, S. 15–20.
  • Stenger, Erich: Die Fotografie im Dienste der Forschung. In: Gemeinnützige Berliner Ausstellungs-, Messe- und Fremdenverkehrs-GmbH (Hrsg.): Die Kamera. Ausstellung für Fotografie, Druck und Reproduktion. Amtlicher Katalog und Führer. Berlin 1933, S. 23–25.
  • Stenger, Erich: Die Fotographie schafft Zeitdokumente. In: Das Atelier des Photographen 44 (1937), S. 183 f.
  • Stenger, Erich: Die Photographie in Kultur und Technik. Ihre Geschichte während hundert Jahren. Leipzig 1938.

 

  • [1] Halwani 2014, S. 263.
  • [2] Kemp 2010, S. 413.
  • [3] Sachsse 2013, S. 249 f.
  • [4] Halwani 2014, S. 233. Siehe auch Kommentar 191, S. 232.
  • [5] Stenger 1938 (siehe Literatur), zitiert nach Halwani 2012, S. 100. Cornelia Kemp wertet dies als „grotesk einseitige Darstellung“, Kemp 2010, S. 420.
  • [6] Stenger 1937 (siehe Literatur), zitiert nach Kemp 2010, S. 418.
  • [7] Stenger Fotografie 1933 (siehe Literatur), zitiert nach Kemp 2010, S. 416, Hervorhebung im Original.
  • [8] Stenger 1938, S. 11.
  • [9] Halwani 2012, S. 93.
  • [10] Zitiert nach Kemp, S. 420. „Im Konflikt zwischen drohender Zensur und Geschichtsklitterung war Stenger bereit, die Leistungen eines jüdischen Wissenschaftlers auszuklammern und damit wichtige Ergebnisse der Forschung nur unvollständig wiederzugeben.“
  • [11] Ausführlich dazu Halwani 2012, S. 94 f.
  • [12] Ausführlich dazu und zur begleitenden Sonderausstellung Kemp 2010, S. 421–439.
  • [13] Halwani 2014, S. 236–241.
  • [14] Zitiert nach Halwani 2014, Kommentar 196, S. 236.
  • [15] 15-seitiger Bericht aus dem Jahr 1940 im Archiv der TU Berlin unter 434 Nachlass Narath, Albert (1900-1974), Nr. 54 [nicht persönlich eingesehen!].
  • [16] Eintrag ohne Datum und nähere Erläuterungen, BArch, R 26-III/90683.
  • [17] Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Kartei aller Hochschullehrer, BArch, R 4901/13277.
  • [18] Halwani 2014, S. 246, Kommentar 203.
  • [19] Hierzu und zum Folgenden Museum Ludwig (Köln), Sammlung Agfa, Stenger-Archiv, Ordner Originalmaterialien I [nicht persönlich eingesehen!]. Siehe dazu Halwani 2012, S. 122, FN 130, sowie Kemp 2010, S. 418 f.
  • [20] Lebenserinnerungen eines Sammlers, zitiert nach Halwani 2014, S. 261.
  • [21] Halwani 2014, Kommentar 190, S. 230.
  • [22] Kemp 2010, S. 419.
  • [23] Kemp 2010, S. 419 f.
  • [24] SSAA, SBZ II, 904.

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