Am 9. November 1918 teilte die Aschaffenburger Zeitung, ebenso wie der Beobachter am Main mit, dass in Aschaffenburg aus „allen beruflichen und politischen Kreisen der Stadt“ ein Wohlfahrtsausschuss gebildet worden war, um „für die Volksernährung, Fürsorge für die Kriegerfamilien, Beschaffung von Arbeit und Arbeitslosenfürsorge das Möglichste zu leisten.“ [1]
In Aschaffenburg selbst kam es am 8. November, als der Wohlfahrtsausschuss zu seiner ersten Sitzung zusammengetreten war, ebenfalls zu einem Protestzug. [2]
Es wurde gemeldet, daß der Landsturmmann [Peter] Pfarrer, Mitglied der Unabhängigen Sozialdemokratie am Scharfeck eine Rede halte. In diesem Augenblick zog auch die sich am Scharfeck angesammelte Volksmenge, in der Hauptsache aus Frauen und halbwüchsigen Burschen bestehend, vor das Rathaus. Pfarrer verlangte eine Unterredung mit dem Oberbürgermeister, die ihm auch um eine Störung in der Ordnung zu verhindern gewährt wurde und im Beisein der im Rathaussaal tagenden Versammlung stattfand. Pfarrer konnte den Erschienenen ein Bild vom dem, was er mit dem Aufzug beabsichtigte, nicht geben. Zur Beruhigung des Publikums, das vor das Rathaus gezogen war, das sehr häufig ins Lachen ausbrach, hielt der Oberbürgermeister [Wilhelm Matt (1872-1936)] eine Ansprache, in welcher er zur Ruhe aufforderte, dabei besonders betonend daß für die Ernährung der hiesigen Stadt hinreichend gesorgt sei. [3]
Auch Adam Eisenhauer (1867-1943), der Führer der USPD, sowie der Arbeitersekretär Oswald Lauer (1875-1942) mahnten zu „Ruhe und Besonnenheit“. [4] Insgesamt betrachtet liefen die Protestzüge des 8. und 9. November, an dem erneut Soldaten und Matrosen durch die Stadt zogen, sehr geordnet und ohne Zwischenfälle ab. Neben der Aschaffenburger Zeitung kommentierte auch der Beobachter am Main die Vorfälle des 8. und 9. November. Allerdings sprach man dort von „nervöse[r] Unruhe in allen Straßen und Gassen unseres altfreundlichen Städtchens!“ [5] Weiter heißt es:
Ein Augenblick, da war es geschehen. Ein Wortführer – ein Zug – der Gedanke hatte Form gewonnen. Hin zum Rathaus, der städtisches Sorgenstädte, wo bereits in Wohlfahrtausschuß tagte […] Die Wahl ist klar: entweder Ruhe und Sicherheit oder Aufruhr und Hungersnot und Arbeitslosigkeit. Und wer wollte sich bedenken bei solcher Wahl? Erfreulich war die Haltung der Vertreter der alten sozialdemokratischen Partei wie der unabhängigen Sozialdemokratie. Sie zeugte von dem Verantwortlichkeitsbewußtsein der Führer und ehrt die Männer von politischer Ueberzeugung [sic!]. Sie ließen keinen Zweifel darüber, daß alles darauf ankommt, daß die nicht aufzuhaltende Bewegung in Ruhe sich vollziehe, und jeder versprach, an seiner Stelle dazu beizutragen und seinen Einfluß dahin geltend zu machen, daß nichts geschehe, was das Volkswohl gefährde, Ordnung und Sicherheit störe. [6]
Im Angesicht einer ungewissen Zukunft verhielten sich die Aschaffenburger demnach vorbildlich. Die Behörden arbeiteten mit den revolutionären Kräften der Sozialdemokratie Hand in Hand, um die Stabilität des Status quo nicht zu gefährden. Am 10. November hatte sich schließlich an der bayerischen Peripherie ein Arbeiter- und Soldatenrat etabliert [7] und dieser erklärte, dass die momentane Situation der Zusammenarbeit aller gesellschaftlichen Kräfte bedurfte:
Wir rechnen auf die schaffende Mithilfe der gesamten Bevölkerung. Jeder Arbeiter an der neuen Freiheit ist willkommen! Alle Beamten bleiben in ihren Stellungen. Grundlegende soziale und politische Reformen werden unverzüglich ins Werk gesetzt. […] Arbeiter, Bürger und Soldaten Aschaffenburgs! vertraut [sic!] dem Großen und Gewaltigen das in diesen schicksalschweren Tagen sich vorbereitet. Helft alle mit, daß sich die unvermeidliche Umwandlung rasch, leicht und friedlich vollzieht. In dieser Zeit des sinnlos wilden Mordens verabscheuen wir alles Blutvergießen. Jedes Menschenleben soll heilig sein! [8]
Die Behörden der Stadt hatten sich dem neuen Gremium unterstellt und zunächst funktionierte die Zusammenarbeit problemlos. [9] Die Kundgebungen verliefen ungestört, Oberbürgermeister Matt sowie die Vertreter der Parteien stimmten den Weisungen des Arbeiter- und Soldatenrates zu, und ganz allgemein wurde erwartet, wie sich die Lage in München und dem Rest Bayerns weiter entwickeln würde.
Jetzt kam es darauf an, die provisorische Regelung der Regierung durch die im gesamten Freistaat gebildeten Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte in eine neue demokratisch legitimierte Ordnung zu überführen. Wahlen waren unabdingbar und diese wurden von den beiden Tageszeitungen in Aschaffenburg genauso gefordert, wie der Bestand Bayerns im Deutschen Reich. Zudem musste, gerade in Aschaffenburg, jedoch ein anderes Problem gelöst werden, das eine Fokussierung der Beteiligten auf praktische Probleme und nicht auf die politischen Entwicklungen in München verlangte. Das Ende des Krieges und der Waffenstillstand mit den Alliierten hatten dafür gesorgt, dass die deutschen Truppen demobilisiert wurden und sich nun auf dem Rückweg befanden. Der Arbeiter- und Soldatenrat empfahl diesbezüglich am 15. November 1918 Folgendes: „Nun gilt es für die Heimat, den Truppen zu beweisen, daß die Heimat dafür dankbar ist! Deutsche Bürger und Bürgerinnen! Ihr könnt das am besten dadurch, daß Ihr Euch durch bereitwillige Gewährung der Unterkunft und Verpflegung an der Fürsorge für die Truppen beteiligt. Gebe jeder nach seinen Kräften, steure er bei, was er erübrigen kann. Die Soldaten werden Euch Dank dafür wissen.“ [10] Die Zunahme der Einwohnerzahlen der Stadt erschwerte allerdings zudem die Versorgung mit ausreichend Lebensmitteln. Die städtische Bevölkerung war deshalb immer mehr auf die Lieferungen vom Land angewiesen, weshalb der Arbeiter- und Soldatenrat in einer weiteren Kundgebung vom 16. November 1918 versuchte, Druck auf die Bauern der Umgebung auszuwirken:
Der landwirtschaftlichen Bevölkerung wird bekanntgegeben, daß die Wirtschaftsstelle Aschaffenburg für ihren bisherigen Wirkungskreis (Bezirk Aschaffenburg Stadt und Land, Bezirk Alzenau, Marktheidenfeld, Obernburg, Miltenberg) ihre Tätigkeit in enger Zusammenarbeit mit dem Arbeiter- und Soldatenrat in gleicher Weise wie bisher fortführen wird. Alle die Landwirtschaft betreffenden Angelegenheiten, soweit sie bisher zu den Dienstaufgaben der Wirtschaftsstelle gehörten, sind daher auch weiterhin der Wirtschaftsstelle zur Erledigung zuzuteilen. [11]
Zuvor hatte der Arbeiter- und Soldatenrat bereits auf mögliche Konsequenzen hinweisen lassen, die drohten, falls die Lebensmittellieferungen nicht planmäßig vonstattengingen.
Die ländliche Bevölkerung hat aber alles zu befürchten, wenn die Lebensmittelversorgung der großen Städte ins Stocken gerät. Dann verliert die neue Regierung die Gewalt über die hungernden Massen. Die Anarchie bricht aus. Magazine und Läden, die geplündert werden könnten, sind leer. Dann wird sich ereignen, was keiner von uns wünschen kann: Von Hunger getriebene, verzweifelte und zu allem entschlossene Haufen werden sich mit Gewehr und Maschinengewehren bewaffnet auf das flache Land ergießen, um sich hier mit Gewalt anzueignen, was sie brauchen, um nicht Hungers zu sterben. [12]
Broschüre zur Ausstellung 100 Jahre Revolution in Bayern und Aschaffenburg
[1] Aschaffenburger Zeitung, Nr. 311, Samstag, 9. November 1918, S. 1 und Beobachter am Main, Nr. 285, Samstag, 9. November 1918, S. 1.
[2] Die Bewegung in Aschaffenburg, in: Aschaffenburger Zeitung, Nr. 311, Samstag, 9. November 1918, S. 1.
[3] Ebd.
[4] Ebd.
[5] Der 8. November in Aschaffenburg, in: Beobachter am Main, Nr. 285, 2. Blatt, Sonntag, 10. November 1918, S. 1.
[6] Ebd.
[7] „Der Vorstand des Arbeiter- und Soldatenrates besteht aus dem 1. Vorsitzenden Gemeindebevollmächtigten Oswald Lauer, 2. Vorsitzenden Adam Eisenhauer, den Schriftführern Anton Bittinger und Ernst Schmitt. An der Spitze des Soldatenrates stehen: Rechtsanwalt Albert Stühler (…), Oberjäger Anton Bittinger (…), Jäger Johann Merget (…), Landsturmmann Sternheimer, Sergeant August Schmitt.“ Aschaffenburger Zeitung, Nr. 312, Montag, 11. November 1918, S. 1.
[8] Flugblatt: An die Bevölkerung Aschaffenburgs! SSAA, Zeitgeschichtliche Sammlung Nr. 186.
[9] Zur Rolle der Beamten während der Revolution siehe ausführlich: Georg Kalmer, Beamtenschaft und Revolution: Eine sozialgeschichtliche Studie über Voraussetzungen und Wirklichkeit des Problems, in: Karl Bosl (Hrsg.), Bayern im Umbruch: Die Revolution von 1918, ihre Voraussetzungen, ihr Verlauf und ihre Folgen, München 1969, S.201-261.
[10] An alle deutschen Bürger! Erklärung des Oberbefehlshabers des Arbeiter- und Soldatenrates beim stellv. Generalkommando 2. bayer. Armeekorps, in: Aschaffenburger Zeitung, Nr. 317, Freitag, 15. November 1918, S. 1.
[11] Kundmachungen des Aschaffenburger Arbeiter- und Soldatenrates, in: Aschaffenburger Zeitung, Nr. 318, Samstag, 16. November 1918, S. 1.
[12] Kundgebungen des Aschaffenburger Arbeiter- und Soldatenrates: Aufruf! An die ländliche Bevölkerung, in: Beobachter am Main, Nr. 288, Mittwoch, 13. November 1918, S. 1.
Der folgende Textauszug stammt aus: Frank Jacob, Revolution und Räterepublik in Unterfranken, Würzburg 2019.
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